2022 hauchte die Amazon-Serie Die Ringe der Macht der beliebten Fantasy-Marke neues Leben ein – da kommt 2023 ein brandneues Videospiel gerade recht. Das stammt sogar aus Deutschland: Der Herr der Ringe: Gollum entstand beim Hamburger Studio Daedalic Entertainment, das vor allem für seine witzigen Point-and-Click-Adventures (Deponia, Edna bricht aus) bekannt ist. Für das Gollum-Spiel, das bereits vor über vier Jahren angekündigt wurde, betritt das Studio Neuland: Zum ersten Mal versucht sich das Hamburger Team an einem großen 3D-Abenteuer mit viel Erkundung, etwas Kampf und reichlich Story. Im ausführlichen und spoilerfreien Test erklärt IMTEST, wo die Stärken und Schwächen des Spiels liegen und wie sich Gollum technisch schlägt.
Überblick
- PS5, PS4, Xbox Series X|S, PC
- 49,99 Euro
- 12-18 Stunden
- ab 12 Jahren
- 19 GB (PS5)
- Action-Adventure
Inhaltsverzeichnis
Von Hogwarts nach Mordor
Die Harry-Potter-Franchise hat vorgemacht, wovon auch die Macher des neuesten Herr der Ringe-Spiels sicher träumen: Eine große Marke, die fast jeder kennt, die aber gerade nicht in aller Munde ist, ins pralle Rampenlicht rücken. Das Potter-Abenteuer Hogwarts Legacy erschien in diesem Februar, erntete viel Lob bei Kritikern wie Fans und konnte sich bereits über 15 Millionen Mal verkaufen. Hersteller Warner Bros. Discovery prahlt mit einem „Einspielergebnis“ von mehr als einer Milliarde US-Dollar im ersten Quartal nach der Veröffentlichung.
Die mediale Bugwelle des Tolkien-Abenteuers Der Herr der Ringe: Gollum ist deutlich geringer, die Anziehungskraft der Fantasy-Marke aber nach wie vor enorm. So war der deutsche Entwickler Daedalic bei der Ankündigung 2019 sichtlich stolz, an einem Spiel im Herr der Ringe-Kosmos zu arbeiten. Die ursprünglich geplante Veröffentlichung im Jahr 2021 verpasste das Team allerdings deutlich, mehrfach wurde der Erscheinungszeitraum des Spiels nach hinten geschoben. An diesem Donnerstag ist es endlich soweit – dann kommt Der Herr der Ringe: Gollum in die Läden. IMTEST stand bereits im Vorfeld die fertige Fassung des Spiels für PlayStation 5 zur Verfügung.
Gollum, der (Anti-) Held
Die Kreatur Gollum, jenes ambivalente Wesen mit dem schütteren Haar und der aschfahlen Haut, war schon in der Buchtrilogie eine der spannendsten Figuren im Tolkien’schen Universum. Einst war Gollum – wie Frodo oder Bilbo – ein Hobbit, er trug den Namen Smeagol und machte Bekanntschaft mit dem Einen Ring. Von diesem wurde er korrumpiert und verunstaltet, aber auch am Leben gehalten. Mehrere Jahrhunderte lang hauste er in dunklen Höhlen bis ihm das mächtige Schmuckstück von Bilbo Beutlin entwendet wurde. Das neue Spiel baut auf dieser Ausgangssituation auf und möchte erzählen, was Gollum zwischen diesem Ereignis und dem ersten Herr der Ringe-Roman passiert ist, auf der Suche nach „seinem Schatz“.
Herausgekommen ist ein lineares, story-lastiges 3D-Action-Adventure, dessen spielerischer Fokus auf Akrobatik-Einlagen und Leisetreterei liegt. Gollum war nie ein großer Kämpfer und das spiegelt sich in seinem Handlungsspielraum wieder: Er schleicht gebückt durch die Gefängnisflure Mordors und die hohen Hallen der Elben, huscht von Schatten zu Schatten und versucht, nicht ins Sichtfeld der Wachen zu gelangen. Ork-Soldaten ohne Helm kann er von hinten anspringen und erwürgen, bei Elben oder Spinnengetier hält er Sicherheitsabstand. Als Schleichspiel à la Splinter Cell funktioniert Der Herr der Ringe: Gollum ordentlich, es bietet aber längst nicht den taktischen Spielraum und das Move-Repertoire seiner Vorbilder. Gollum kann zur Ablenkung Steine werfen und verschmilzt in dunklen Ecken mit der Umgebung – eine Sichtbarkeitsanzeige oder kluge Gadgets gibt es aber nicht. Auch Leichen kann Gollum nicht verstecken. Zudem lernt er nichts dazu, einen Fähigkeiten-Baum mit Gollum-Upgrades sucht man vergebens.
Parkour in Mittelerde
Was ihm an Kampfskills fehlt, macht er durch seine akrobatischen Fähigkeiten wett – öfter noch als sich vor Wochen zu verstecken, sucht Gollum nämlich nach Wegen, egal ob zu einer Turmspitze oder in Richtung eines Höhlenausgangs. Er kann kurzzeitig sprinten, horizontal an Wänden entlangrennen und sogar senkrechte Mauern ein paar Meter hochkraxeln. Auf Knopfdruck stößt er sich vom Mauerwerk ab, schwingt an Stangen oder klettert Blumenranken hoch. Hier gilt wie bei der Schleich-Mechanik: Die Basics funktionieren ordentlich, darüber hinaus wird aber nichts geboten, was nicht schon ein Dutzend anderer Spiele ebenso gut oder besser gemacht hat.
Wo Top-Games einen interaktiven Abenteuerspielplatz anbieten, bei dem man als Spieler – wenigstens gefühlt – ein Set an Fähigkeiten klug einsetzt, um zum Ziel zu gelangen, da ist das Gollum-Spiel sehr eingeschränkt. Kletterranken leuchten oft bunt, alle Kanten, die Gollum greifen kann, haben einen weißen Anstrich, und auch die Mauern für Wandläufe sind mit fetten Streifen markiert. Da fühlt man sich als virtueller Akrobat und Wegesucher schnell zu sehr an der Hand genommen oder gar bevormundet – weil eben meist nur der Weg zum Ziel führt, den die Entwickler für Gollum vorgesehen haben. An allen anderen Wänden, die eigentlich haargenau gleich aussehen nur die Markierung vermissen lassen, da kann er seine Manöver plötzlich nicht einsetzen. Das ist zwar auch in der modernen Spielelandschaft nicht ungewöhnlich – nur verstehen es die meisten aktuellen Titel besser, derlei Einschränkungen zu kaschieren.
Gollum ein Tausendsassa?
Zum Glück bedeutet das nicht, dass die Turn- und Schleichpassagen keinen Spaß machen. Es ist durchaus unterhaltsam und kurzweilig, die dunklen Kerkertürme oder mit Spinnweben verzierten Höhlen, auf diese Weise zu erkunden. Als erfahrener PC- oder Konsolengamer spielt man das einfach so weg, ohne groß gefordert zu werden. Dabei bemüht sich das Spiel um inhaltliche Abwechslung: Mal muss Gollum eine Turmglocke läuten, einen Vogel ausbrüten oder einen Gegenstand aus dem Zimmer des Großinquisitors stibitzen. Wenig später türmt er, am Planwagen hängend, aus einem Orklager oder muss den Wasserstand in der Kloake von Mordor regulieren.
Wann immer man klettert, schleicht oder einfach durch die Gemäuer läuft, dann bietet der Titel solides Niveau an. Vielfach fühlt sich das nach Versatzstücken anderer Action-Adventures an, und mehr als einmal wähnt man sich in spielerischer Hinsicht in der Generation Xbox 360 und PlayStation 3 statt in einem modernen AAA-Abenteuer der Kragenweite God of War oder Zelda.
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Problematischer wird es, wenn Spielelemente jenseits der Standardformel dazukommen – z. B. die Flucht vor wilden Tieren oder das Dirigieren von anderen Figuren. Beide Beispiele gehen ziemlich in die Hose: Das Davonrennen krankt an einer unübersichtlichen Kamera und zu knapp bemessenem Vorsprung. Die Befehlsteuerung für andere Charaktere ist so umständlich wie überschaubar: Abseits von „Gehe dorthin“ und „Lege Schalter um“ können die CPU-Figuren kaum etwas, zudem sind sie lausig animiert und bewegen sich wie Schnecken.
Dr. Gollum und Mr. Smeagol
Ein weiteres Spielmerkmal ist die Zerrissenheit der Hauptfigur: Wie in der Buchvorlage wohnen die beiden Charaktere Gollum und Smeagol im selben Körper. Gollum ist zornig, neidisch und egoistisch, Smeagol hingegen schüchtern und ängstlich – er dürstet nach Zuneigung. Das sorgt für einige interessante Dialoge (respektive Monologe) und kommt auch tonal gut rüber.
Obendrein hat man immer wieder die Wahl, Gollum oder Smeagol auf einen Satz einer anderen Figur antworten zu lassen. Das ist unterhaltsam, es fehlen jedoch spielerische oder storytechnische Auswirkungen. Nur manchmal kommt es zu einer Argumente-Schlacht: Möchte man die böse Handlungs-Option wählen (z. B. eine Charakter in den Tod schicken), dann muss man die Antworten so wählen, dass der innere Smeagol überzeugt wird. Auf der anderen Seite kann auch der schüchterne Smeagol so stichfest argumentieren, dass Gollums aggressives Wesen unterliegt und man sich für den friedlicheren Ausgang eines Szene entscheidet. Das klingt in der Theorie reizvoll und es sorgt durchaus für ein paar nette Story-Momente, ein Gamechanger ist es aber nicht.
Grafik und Sound
Obwohl sich viele Spieler, vor allem PC-User, über den unfertigen Zustand moderner Games auslassen, haben viele heutige Videospiele doch einen ziemlich hohen Produktionsstandard erreicht. Auf Der Herr der Ringe: Gollum trifft dies leider nicht zu, an vielen Ecken und Enden merkt man, dass sich Macher Daedalic daran verhoben hat – trotz der zusätzlichen Entwicklungszeit gibt es in der fertigen Version viele Probleme.
Das fängt bei der grafischen Qualität an: Gollum sieht – von seiner festgeklebten Frisur abgesehen – noch ganz ordentlich aus, doch Nicht-Spieler-Charaktere wie Gandalf, die Elben oder Orks wirken wie aus der Zeit gefallen. Verwaschene Kleidertexturen, versteinerte Mienen, schreckliche Haare. Auch die generelle Qualität von Leveltapeten und 3D-Modellen kann sich mit modernen AAA-Produktionen nicht ansatzweise messen. Die deutschen Stimmen machen einen besseren Job: Gollums Sprecher (Maik Lohse) ist zwar nicht derselbe wie in der Filmtrilogie, er trifft den Ton aber richtig gut. Und weil der blasse Wicht klar im Zentrum steht, fallen die schwächeren anderen Stimmen nicht so stark ins Gewicht.
Bugs und Abstürze
Natürlich können Videospiele auch ohne Hochglanz-Optik großen Spaß bereiten – das aktuelle Zelda: Tears of the Kingdom ist der beste Beweis dafür. Allerdings hat Gollum weitere Probleme: In der Testphase kam es auf der PS5 zu zahlreichen Spielabstürzen, vor allem wenn der Regler „animierte Haare“ bei Gollum angeschaltet war. Das war wohl der Grund, warum diese Frisur-Option beim jüngsten Patch auf die Version 1.002.000 entfernt wurde. Doch auch danach traten regelmäßig gravierende Probleme auf: Einmal wurde der automatische Rücksetzpunkt nach einem Sturz in den Tod so gelegt, dass Gollum immer wieder ohne Zutun ins Nichts fiel. An anderer Stelle fror das Hauptmenü plötzlich ein oder steckte die Kamera nach einer Zwischensequenz in der Wand fest. All diese Probleme ließen sich durch die Option „Level neu starten“ und das erneute Spielen einiger Minuten zwar beheben, dennoch fließt das negativ in die Abschlussnote mit ein.
Fazit
Beinharte Herr der Ringe-Fans erhalten mit dem Gollum-Spiel eine solide erzählte Zusatz-Episode aus ihrer liebsten Fantasy-Welt. Man erfährt Interessantes aus dem unbekannten Lebensabschnitt des Antihelden, zudem kommt die innere Zerrissenheit von Gollum gut rüber. Gleichzeitig wundert man sich über die zahlreichen Bugs und Kinderkrankheiten sowie über die schwache Grafik – weder im Leistungs- noch im Grafik-Modus (wahlweise mit oder ohne Raytracing) läuft das Spiel so richtig rund und sieht ansatzweise wie ein PS5-Titel aus. Leider kann der spielerische Gehalt diese Mankos nicht ausgleichen: In den besten Momenten entsteht ein gefälliger Fluss aus Kletter-Akrobatik und simplem Stealth-Gameplay. Doch in den schlechteren Szenen ärgert man sich über nie ganz akkurate Steuerung, den zu linearen Level-Aufbau, die plumpen Action-Einlagen oder die holprige Spielerführung. Dieses Gollum-Spiel ist kein Totalausfall, mehr als ein leicht unterdurchschnittliches Action-Abenteuer ist es aber auch nicht.
- PRO
- Interessante Hauptfigur, abwechslungsreiche Aufgaben, Klettern macht Laune.
- KONTRA
- Schwache Grafik, viele technische Bugs, wenig spielerischer Freiraum.
IMTEST Ergebnis:
befriedigend 3,2